Über Umsatzzuwächse durch E-Book-Bundles, Leser Communities im Social Web, Enhanced/Enriched E-Books und vieles mehr. Ein Interview mit Ariane Hesse die Lektoratsleiterin beim O’Reilly Verlag .
Frau Hesse, Sie arbeiten seit 1998 im Lektorat von O’Reilly als Lektoratsleiterin. Worin liegen Ihre Aufgabenschwerpunkte?
In unserem Büro in Köln arbeiten wir mit 5 Lektoren (mich selbst eingerechnet) und 2 Herstellerinnen an unserem Programm. Im Jahr bringen wir etwa 45 deutschsprachige IT-Fachbücher heraus. Ich koordiniere die Programmplanung und Produktentwicklung und bin für das Team verantwortlich. Im Rahmen des Budgets übernehme ich für unsere Produkte die Kosten- und Umsatzplanung.
Die Nutzung von Medien verändert sich durch moderne Webtechnologien und -angebote. Glauben Sie, dass die Zukunft der Verlagsbranche im Online-Segment liegt bzw. wird es einen kompletten Wandel hin zu elektronischen Medien geben?
Die vollständige Ablösung aller Print-Medien durch elektronische Produkte bzw. Angebote? Das wohl für lange Zeit nicht. Verlage sind schließlich sehr unterschiedlich und sprechen Leser, Nutzer, Zielgruppen mit ganz verschiedenen Interessen, Bedürfnissen und Rezeptionsgewohnheiten an.
In Diskussionen zum Medienwandel wird immer wieder auf das Beispiel Radio verwiesen: Durch das Fernsehen wurde es nicht verdrängt. Im Medienmix hat das Radio heute allerdings eine andere Rolle als zu seiner Einführung. Es wird interessant sein zu sehen, wie sich in diesem Sinne die Rolle des gedruckten Buches langfristig verändern wird. Ich denke es gibt zwei Aspekte, die sehr dafür sprechen, dass digitale Angebote enorm an Bedeutung gewinnen werden: Die Zugänglichkeit oder Verfügbarkeit: Als Leser/Nutzer kann ich Produkte zu jeder Zeit (24/7) und überall und ziemlich preisgünstig kaufen. Es spielt auch keine Rolle mehr, wo die Produkte entstanden sind und angeboten werden. Genug Geräte, um digitale Produkte zu lesen bzw. zu nutzen, gibt es bereits und sie werden immer besser und günstiger.
Der Mehrwert, den sie bieten: Inhalte in digitaler Form, beziehungsweise so aufbereitet, wie wir das vom Web gewohnt sind, bringen enorme Vorteile mit sich: etwa die Option, Buchtexte durch Audio- und Videomaterial oder interaktive Elemente anzureichern (Enhanced/Enriched E-Books). Ob Simon & Schuster, Penguin oder Bastei/Lübbe – viele Verlage experimentieren in dieser Richtung. Aber das halte ich aus der Sicht von Fachbuchverlagen nicht für das wichtigste Feature. Auf der Hand liegt auch, dass digitale Inhalte sich viel unkomplizierter korrigieren und aktualisieren lassen – Publizieren kann also deutlich dynamischer werden. Publizieren kann außerdem sozialer werden: Ob ein Autor schon während des Schreibens das Feedback seiner Leser einholt – wie das gerade unsere Autoren von „PR im Social Web“ auf Facebook tun – oder ob die Leser-Community eines Buches den Buchinhalt um ihre Kommentare und die Diskussion erweitert (Real World Haskell) – Bücher müssen nicht länger statisch und abgeschlossen sein. Anleihen aus dem Web meint nicht zuletzt die konsequente Verlinkung der Inhalte. Das klingt nicht spektakulär, ist aber für Fachtexte ein Riesengewinn. Nutzt man diese Möglichkeiten konsequent, entfernt sich das E-Book schon sehr von dem, was wir heute unter einem Buch verstehen.
Auch die Rezeptionsgewohnheiten verändern sich stark. Durch das Web ist das Informations- und Medienangebot schier unerschöpflich und wenn jemand auf dem iPad liest, konkurriert der Inhalt nicht nur mit anderen Büchern, sondern auch mit Tweets, Facebook und YouTube-Videos. Es geht also um viel mehr als „book goes digital“.
Wie sehen zeitgemäße Informationsangebote für die Verlagsbranche aus?
Wenn ich nochmal an Zugänglichkeit und Mehrwert anknüpfe: Zum einen sollten zeitgemäße Produkte oder Angebote einfach zu beziehen sein. Der Kaufvorgang sollte reibungslos vonstattengehen und es ist wichtig, Nutzer nicht durch DRM oder proprietäre Formate zu behindern. Nutzer sollten die Inhalte auf den Geräten Ihrer Wahl lesen und auch in Zukunft verlässlich auf sie zugreifen können.
Zum zweiten geht es dann natürlich um den Nutzen eines Produkts. Je nachdem, was das Produkt oder Angebot will, sollte es auf die Bedürfnisse des Lesers so gut wie möglich antworten. Geht es darum, Zeitgeschichte zu präsentieren, ist das natürlich etwas anderes als ein Angebot zum Lernen einer Programmiersprache zu machen oder durch einen neuen Stieg Larsson sowieso ein fesselndes Schmöker-Erlebnis zu bieten … Verlage müssen jeweils herausfinden, was die Produktintention am besten unterstützt. Moderner Mehrwert ist aufwändig und kostet Geld. Verlage müssen prüfen, was wirtschaftlich wirklich sinnvoll ist und wofür der Leser einen höheren Preis zu zahlen bereit ist.
In einem Ihrer Artikel für den Oreillyblog schreiben Sie: „Es ist nicht zu übersehen: Das Internet hat eine Medienrevolution eingeleitet, die inzwischen richtig Fahrt aufgenommen hat.“ Wie reagiert der O’Reilly Verlag auf diese Medienrevolution?
Auf solche Fragen antworten wir bei O’Reilly dann gerne, dass der US-Verlag seit seinem Bestehen ja auf ganz unterschiedlichen Geschäftsfeldern agiert hat: Beispielsweise hat O’Reilly die erste kommerzielle Website erstellt (Global Network Navigator). Außerdem gibt es neben den IT-Büchern in Print und in digitaler Form seit Jahren Konferenzen, die Online-Bibliothek Safari (für IT-Professionals) oder das Make Magazin (für DIY-Enthusiasten). Es gehörte also schon immer zum Selbstverständnis von O’Reilly, nach zeitgemäßen und neuen Produkt- und Angebotsformen zu suchen.
In den letzten 2-3 Jahren verzeichnen die Kollegen enorme Umsatzzuwächse beim Verkauf von sogenannten E-Book-Bundles. Beeindruckend ist, dass sie inzwischen 5 Formate für die gängigen Geräte und Betriebssysteme anbieten: PDF, EPUB, .mobi für Amazons Kindle, .apk für Android Smartphones und inzwischen auch DAISY (Talking Book Format) für Menschen mit eingeschränkten Lesefähigkeiten. Die E-Books sind übrigens immer DRM-frei. Die US-Kollegen produzieren außerdem Videos und Screencasts. Hier konnten sie gerade in der letzten Zeit einen Umsatzzuwachs feststellen.
In Köln haben wir mit knapp 20 Mitarbeitern begrenzte Ressourcen. Wir wollen spätestens im Januar E-Book-Bundles bestehend aus PDF und EPUB anbieten. EPUBs sind für die Textdarstellung auf mobilen Geräten besonders geeignet und deshalb aus unserer Sicht sehr wichtig. Wir haben mit Tim Pritlove erste Podcasts gemacht. Wir überlegen außerdem, im Bereich Screencasts zu experimentieren.
Was glauben Sie welche Rolle dabei Web-Anwendungen wie Facebook, Twitter und Co. übernehmen? Werden diese Anwendungen in Bezug auf unsere Branche über- oder eher unterschätzt?
Ich habe da nicht so den Überblick, wer das in unserer Branche wie beurteilt. Für uns bei O’Reilly – wir sprechen aber natürlich auch eine sehr Web-affine Zielgruppe an – sind diese Dienste nicht mehr wegzudenken. Allein in Deutschland haben wir über 4.000 Twitter-Follower und etwa 1.110 Facebook-Nutzer, denen gefällt, was wir auf Facebook machen. Gerade haben wir beispielsweise eine neue Reihe zu Adobe-CS5-Programmen herausgebracht und bekamen schon in den ersten Tagen nach der Auslieferung Feedback über Twitter.
Ganz gleich, wie diese Dienste dann morgen heißen oder in welche Richtung sie sich weiter entwickeln: das Prinzip der Vernetzung, von Communities und dass Meinungsbildung stärker durch Peers/meine Online-Kontakte als durch Anzeigen beeinflusst wird – das nimmt weiter zu, denke ich.
Welche Chancen räumen Sie dem E-Reader mit E-Ink Technologien ein? Glauben sie das Tablets oder genauer das iPad besser platziert ist?
Reader mit E-Ink-Technologie sind sicherlich für Vielleser interessant – sie sind ziemlich günstig, schonen die Augen, die Batterielaufzeiten sind verglichen mit Smartphones oder Tablet PCs traumhaft. Wer diese Geräte nutzt, möchte Text lesen, viel Text (Thalias Oyo oder aktuelle Sony Reader stellen wie die meisten noch keine Farbe dar).
Mit einem Tablet PC hingegen kann ich nicht nur Text-E-Books, sondern z.B. auch multimedial aufbereitete Medizin-Lehrbücher oder Kinderbücher ansehen (das Angebot ist hier noch ausgesprochen überschaubar). Und natürlich kann ich das Gerät auch sonst nutzen, um Bilder und Videos anzugucken, zu surfen, zu twittern etc. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, sagen Marktforscher, dass Jüngere eher die Tablet PCs (ich meine bis Mitte 30) und Ältere eher die E-Reader nutzen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kinder, die jetzt aufwachsen, einen E-Reader benutzen werden, mit dem man ausschließlich lesen kann.
Welches Buch lesen Sie gerade? Digital oder Print?
Gedruckt lese ich „Richard Ford: Die Lage des Landes“. Am Wochenende habe ich mir per Kindle App „Nick Bilton: I live in the future & here’s how it works“ auf mein iPhone heruntergeladen. Ich war erst skeptisch, ob ich ganze Bücher auf so einem kleinen Gerät lesen würde, aber ich habe es mit einem englischsprachigen Sachbuch ausprobiert und es war ok. Praktisch finde ich vor allem die Worterklärungen bei englischsprachigen Texten und dass ich wichtige Textstellen markieren und hinterher als Liste einsehen kann.
Herzlichen Dank für Ihre fundierten und sehr interessanten Antworten.
mehr Informationen
[www.oreilly.de|O’Reilly Verlag|19.12.2010|14:38]
[www.community.oreilly.de|Ariane Hesse|19.12.2010|14:39]
[www.xing.com|Ariane Hesse|19.12.2010|14:41]